Die Tiere im Karate

Die Leidenschaft des Tigers entlädt sich im mächtigen Angriff im Augenblick der Bedrohung, darum üben wir seinen Mut, seine Schnelligkeit und Stärke zu erlangen. Dagegen lehrt der Leopard mit geschickter Gewandtheit zu kämpfen, und die Verwundbarkeit des Opfers zu erkennen und zu nutzen. Im Streben um höchste Präzision und Effektivität im Angriff und geduldiger Ausdauer in der Verteidigung, ist die Schlange Lehrmeisterin. Vom Kranich erfahren wir das richtige Zusammenspiel in Muskeln, Sehnen und Knochen, damit ein Stoß schnell und kraftvoll wird. In der Übung der inneren Kraft und der Befreiung des Geistes ist der Drachen Vorbild.   
[Die verwendeten Abbildungen sind aus den Büchern von Alexander Dolin: Kempo. Die Kunst des Kampfes, 1988 und Werner Lind: Das Lexikon der Kampfkünste, 1999 entnommen.]


Die stärkste Tierform - Kraft und Mut sind seine Tugenden


Der Tiger ist ein Symbol für Kraft, Mut und Tapferkeit, und auch seine Ausdauer, Geschmeidigkeit und Schnelligkeit sind zu bewundern. Er drückt innere Sanftmut durch äußere Härte aus.

Tiger sind Herzkämpfer, sie starten den Angriff. Durch ihre Dynamik, Stärke und Explosivkraft durchbrechen sie jede Deckung. Darum reize nie einen Tiger wenn dir dein Leben lieb ist.

Du erkennst den Tiger an seinem ruhigen, ernsten Blick
(> Tora-Metsuke) und seinem edlen, majestätischen Auftreten. Denn er ist sich seiner Macht und Stärke bewusst und zeigt nie Furcht. Doch auch der leidenschaftliche Tiger sollte vorsichtig sein, denn der kluge Drachen stellt ihm oft eine Falle.

Greift der Tiger an ist sein Blick feurig, bösartig und wild. Er kämpft geradlinig aus der Katzenstellung (> Neko ashi dachi) und den tieferen Stellungen (> Zenkutsu-, Kokutsu dachi). Mit seinen mächtigen Pranken und Krallen packt er seine Opfer, schlägt von Vorn oder Oben in die Wunde und reißt sie auf. Mit einer 4 Finger-Würge beißt der Tiger tödlich zu. Der Tiger kämpft gerne mit dem gewandten Leoparden.

Die Tigerhand im Angriff muss mit viel Nachdruck auf den Handballen und die Finger geführt werden. Sein Stil stärkt die Muskeln und Knochen.



Die gefährlichste Tierform - Das kleine aber mutige Tier des Nordens und der Mitte


Der Leopard repräsentiert Behändigkeit und geschicktes Vorgehen. Er bewegt sich mit Anmut und Leichtigkeit, seine Kraft entlädt sich in blitzschneller Reaktion und hoher kombinatorischer Gewandtheit. Der Leopard kennt keine Furcht. Er zögert nie und entscheidet in jeder Situation sofort, denn er vertraut seinen Bewegungen. In seinen Eigenschaften ist er ebenso gefährlich wie der hungrige Tiger und im Kampf hat er ihn oft zum Freund. Zwar ist er kleiner und weniger kräftig, dafür jedoch sehr präzise und mit großen Kampfeswillen.

Ein Leopard durchbricht nie die Deckung. Ein Leopard muss sich aufmachen, dann schlägt er 3 bis 4 präzise Techniken und zieht sich zurück. (O-Ton F. Nöpel) Indem er bewusst Lücken lässt, animiert er den Gegner die eigene Deckung zu öffnen. Hier schlägt der Leopard zu. Auch springt er gerne in oder auf das Opfer, oder er wirft sich absichtlich zu Boden, um mit anschließenden Beinschlägen zu überraschen.
 
In der Verteidigung weicht er schnell aus, um dann in die Lücken zu schlagen und das Opfer im Nahkampf zu besiegen. Aus der Katzenstellung und den tieferen und mittleren Stellungen (> Zenkutsu-, Kokutsu-, Heiko-, Tsuri ashi dachi) führt er seine geradlinigen Angriffe mit den Handballen und den Fingergelenken, lässt diese nach dem Auftreffen zurück schnappen.
 
Mit Hiraken stößt er tödlich in den Kehlkopf oder Gesicht und Kopf, oder er schlägt empfindlich zu den Seiten und zum Kreuz. Mit der 3 Finger-Würge beißt der Leopard entschlossen zu.

Wer sich im Stil des Leoparden übt, lernt in elastischen Bewegungen, schnellen Drehungen, Schlägen und Tritten mit hoher Anpassungsfähigkeit, Koordination und Genauigkeit zu kämpfen.



Die schnellste Tierform


Die Schlange ist ein Symbol des Qi. Sie beherrscht den psychologischen Kampf und die Gegensätze Aktiv und Passiv. Die eigenwillige, kluge Schlange atmet ruhig und rhythmisch. Ihre natürlichen Bewegungen sind völlig flexibel und elastisch. Trotz ihrer auf den ersten Blick unscheinbaren Gestalt und edlen Geschmeidigkeit, ist die gereizte Schlange ein gnadenloser Kämpfer und besitzt viele und gefährliche Waffen, welche sie tödlich einsetzt. Die Schlange kommt dem Drachen und dem Kranich gern zu Hilfe.

Ihre ununterbrochen fließenden Bewegungen sind Ausdruck höchster Konzentration, welche sie in blitzschnelle, hoch präzise Angriffe lenkt, die das Opfer exakt in empfindlichen Nervenpunkten treffen (> Kyoshujutsu).

Sie schlägt mit dem Schwanz, springt auf den Feind, um ihm ihren Giftzahn einzubohren, windet sich um seinen Körper und erdrosselt ihn. (Dohlin S. 181) Die Schlange lenkt schnelle und harte Angriffe scheinbar mühelos in tiefen Stellungen an sich vorbei, ist mit dem Angriff am Gegner (> Kakie) und greift sogleich schmerzhaft in den Körper und in die Gelenke (> Zukami, Tuite).
 
Sie spritzt mit Knöchel- und Fingerstößen ihr Gift in die Augen des Opfers (> Nukite waza) oder führt heftige und unerwartete Schläge und Tritte in den Kopf und in den Körper (z.B. mit Zumasaki). Beißt die Schlange zu, stößt sie in die Kehle und würgt mit zwei Fingern.

Der Stil der Schlange erzieht die Konzentration der vitalen Energie, besonders in den Fingern, und lehrt Ausdauer, hohe Flexibilität und Beweglichkeit.



Anmut, Übersicht und Schnelligkeit sind seine Tugenden


Der Kranich ist ein Symbol des Südens. In vielen Geschichten und Legenden um die östlichen Kampfkünste spielt er eine bedeutende Rolle. Der Stil des Weißen Kranich (> Hakutsuru Ken > Geschichte um Fang Qi-Niang, Geschichte um Feng Li > Seiinchin) beeinflusste maßgeblich alle okinawanischen Te-Stile, Vorläufer des modernen Karate, und ist eine Grundlage für das berühmte Werk Bubishi. In China repräsentiert der Kranich Langlebigkeit und Beweglichkeit.

Der leichte und geschickte Vogel scheint schwerelos in der Luft und doch majestätisch und unbewegt am Boden. Der Kranich ist unbesiegbar und hat keine Feinde. Aber seine Eier und Jungen muss er beschützen. (O-Ton: F. Nöpel) Darum ist er immer zum Kampf bereit. Er verträgt sich gut mit der Schlange und dem Drachen.

Groß gewachsen (der Kaiserkranich wird bis zu 1,70 m), schlagen seine Schwingen in weiten, runden Bewegungen anmutig und doch mit enormer Kraft, so dass kein Gegner ihm nahe zu kommen vermag. Seine starken Beine sind verhornt und er besitzt feste Krallen.

Der Kranich ist ein Meister im schnellen Ausweichen. Über die Kreuzstellungen (> Kosa-, Bensoku dachi), nach hinten, zu den Seiten und auf einem Bein stehend (Sagi ashi dachi), weicht er jedem Angriff mit edler Leichtigkeit aus. Diese Kunst und die Beherrschung hoher geistiger Konzentration erlaubt ihm, den Angriff des Gegners geduldig abzuwarten, um schließlich furchteinflößend und mächtig von Vorn und den Seiten zu schlagen und zu stoßen. Sein Schnabel (> Washide) schnappt tödlich in Teile des Gesichts oder fängt, zieht und drückt das Opfer, um Muskeln, Sehnen, Gelenke und Knochen gefährlich zu traktieren (> Qinna-Techniken). Seine starken Beine treten gezielt in die Knie und Knöchel.

Der Kranich lehrt, das sich alle Körperteile als Einheit bewegen müssen, denn erst in genauer Abstimmung im Zusammenspiel von Muskeln, Sehnen und Knochen wird ein Stoß schnell und kraftvoll. Der Kranich stärkt die unteren Extremitäten, übt die Schnelligkeit der Beine und das Gleichgewicht.



Sagentier des Kaisers - Erkenntnis das sich das Gute und die Harmonie durchsetzen


Der Drache verkörpert als mystisches Fabelwesen die geistige Dimension, Wachsamkeit, Selbstvertrauen und eine positive innere Einstellung. In China versinnbildlicht er das Glück und ist Symbol des Kaisers. In der daoistischen Philosophie steht der Drache für das Yang und wird inmitten von Wasser und Wolken dargestellt, die das Yin verkörpern. Nach dem Winter steigt er aus der Erde auf und erzeugt den ersten Regen. Dann wird das Drachenfest gefeiert.

Der Drache ist fast unbesiegbar.
Aber er hat eine Schwäche; Er macht
sich gerne größer als er ist: (O-Ton: F. Nöpel)
 
Er ist ein schlauer, starker und gefährlicher Kämpfer.
Seine Flexibilität in den Stellungen und seine gewandten Bewegungen machen den ausgeglichenen Drachen zu einem unberechenbaren Gegner. Er kämpft mit dem Kopf und fürchtet weder Tod noch Teufel, gerne kämpft er auch gegen mehrere Gegner.

Der Drache macht sich groß und klein, er schwebt, fliegt und läuft wie es die Situation erfordert, er führt den Kampf und gewinnt ihn auch. Dabei hat er viele Waffen, die er auch voll einsetzt. Er beißt und faucht (> Kiaijutsu), reißt und würgt (> Shime waza), springt und stürzt sich auf das Opfer (> Tobi geri). In runden Bewegungen umkreist er den Gegner, aus gefährlicher Position greift er unerwartet und heftig an. Der Drache kennt jeden Atemipunkt des Gegners und verwendet häufig Handschwert und Handspeer. Darum ist im Kampf die Schlange oft sein Freund. Seine Bewegungen imitieren das Flügelschlagen und die Pfoten- und Schwanzschläge, wenn er aus der Luft angreift und am Boden verteidigt.

Der Drache lehrt die spirituellen Übungsaspekte, die Befreiung des Geistes und die Beherrschung des Qi. Er entwickelt die innere Kraft.


Quellenverzeichnis

  • Dolin, Alexander; u. a.: Kempo. Die Kunst des Kampfes. Ostasiatische Kampfsportarten, Sportverlag Berlin, 1. Aufl., 1988.
  • Habersetzer, Roland: Bubishi. An den Quellen des Karatedô, Palisander Verlag Chemnitz, 1. Aufl., 2004.
  • Lind, Werner: Das Lexikon der Kampfkünste, Sportverlag Berlin, 1999.
  • Lind, Werner: Ostasiatische Kampfkünste. Das Lexikon, Sportverlag Berlin, 1996.
  • Nöpel, Fritz: Vorträge, Breitensportlehrgänge.
  • Pabst, Manfred: Kung-Fu. Theorie und Praxis klassischer und moderner Stile, Falken-Vlg., Niedernh.; 15. Aufl., 1992.
  • Paetzold, Frank.: Wu-Shu. Faszination China und asiatische Kampfkünste, Books on Demand GmbH; 1. Aufl., 2003.
  • Voß Holger: Shaolin-Kempo. Ein edles Ding. Dan-Arbeit